Mama ist psychisch krank – was nun?
Das Projekt Kidstime hilft - Klaus Henner Spierling hat es nach Deutschland geholt
Jedes Jahr sind in Deutschland rund 28 Prozent der Erwachsenen von einer psychischen Erkrankung betroffen. Wenn es sich dabei um ein Elternteil handelt, trifft die Erkrankung die ganze Familie. Das Projekt Kidstime hilft diesen Familien – und stellt dabei die Kinder in den Mittelpunkt, um sie in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Der Diplom-Psychologe Klaus Henner Spierling holte das Projekt 2015 aus Großbritannien nach Deutschland, zunächst ans Agaplesion Diakonieklinikum in Rotenburg.
Herr Spierling, was macht es mit Kindern, wenn die Eltern plötzlich psychisch erkranken?
Das hängt von vielen Faktoren ab, unter anderem vom Alter der Kinder. Eine häufige Auswirkung ist eine grundlegende Verunsicherung. Insbesondere kleine Kinder brauchen zugewandte, feinfühlige und verlässliche Beziehungsangebote – das fällt schwer, wenn ein Elternteil beispielsweise mit einer Depression zu tun hat. Wir beobachten, dass schon sehr kleine Kinder sich oft verantwortlich oder schuldig fühlen, wenn es Elternteilen nicht gut geht. Ältere Kinder übernehmen häufig konkrete Versorgungsaufgaben – gegenüber Eltern wie gegenüber jüngeren Geschwistern. In vielerlei Hinsicht kann eine psychische Erkrankung Ängste bei Kindern hervorrufen, nicht zuletzt auch Ängste, die Krankheit einmal selbst zu entwickeln.
Wie kann Kidstime da helfen?
Kinder psychisch erkrankter Eltern haben drei Kernbedürfnisse: eine Erklärung, Zugang zu einer Gruppe von anderen Kindern oder Jugendlichen in ähnlicher Situation, mindestens einen stabilen und zugewandten Erwachsenen. Bereits die Erklärung, dass es sich um – behandelbare – Erkrankungen handelt, kann die Kinder sehr entlasten. Zudem stehen bei Kidstime gemeinsames Spielen und Spaß im Mittelpunkt. Die Kinder sollen einen Rahmen erfahren, in dem sie durch kreative Angebote sozusagen ihre eigene Stimme finden und Verantwortung abgeben. All das stärkt die Resilienz, die psychische Widerstandskraft. Die Eltern erfahren Austausch und Stärkung untereinander – die Kinder und ihre Bedürfnisse stehen auch in der Elternarbeit im Mittelpunkt. Kidstime ist ein niedrigschwelliges, allen Altersgruppen leicht zugängliches Angebot und ist ausdrücklich keine Therapie – auch wenn die Familien mitunter positive therapeutische Effekte beschreiben.
Welchen psychischen Erkrankungen begegnen Sie bei Kidstime hauptsächlich?
Kidstime ist ein Angebot, das sich nicht auf einzelne psychische Diagnosegruppen beschränkt und damit andere ausschließt. Am häufigsten begegnen uns allerdings depressive Erkrankungen und Angsterkrankungen, typisch sind allerdings auch Mehrfachdiagnosen.Was sind die Hauptprobleme der Familien, speziell der Kinder?
Viele Kinder sind verunsichert und reagieren mit sozialem Rückzug, zögern etwa, Freunde nach Hause einzuladen. Mitunter bemühen sich die Kinder sehr aktiv um die Aufmerksamkeit ihrer Eltern. Bei jüngeren Kindern wird das oft als herausforderndes (z. B. lautes, unruhiges) Verhalten beschrieben. Andere übernehmen Versorgungsaufgaben oder sind stets wachsam in Bezug auf Krisenzeichen. Tabuisierungen spielen eine weitere große Rolle. Oft wissen die Kinder nicht, an wen sie sich wenden sollen. Und falls sie wissen, wen sie ansprechen können, spielen oft Hemmungen eine Rolle, die Eltern gewissermaßen zu verraten und „in die Pfanne zu hauen“. Loyalität und Schweigegebote spielen meist eine große Rolle.
Kinder, deren Eltern psychisch erkrankt sind, tragen ein höheres Risiko auch selbst psychische Erkrankungen zu entwickeln. Warum ist das so?
Neben genetisch bedingten Erkrankungsrisiken spielen Umwelterfahrungen eine große Rolle. Wir wissen, dass unterstützende und Sicherheit gebende Beziehungserfahrungen den Risiken entgegenwirken, ebenso Informationen zu psychischer Erkrankung und soziale Unterstützung. In dem Maße, in dem diese allerdings ausbleiben und die Kinder und Jugendlichen allein gelassen werden oder zusätzliche Kränkungen und Beziehungsabbrüche erfahren, wachsen auch die Risiken – im schlimmsten Fall entwickelt sich ein Teufelskreis. Wichtig ist zu wissen, dass schon verhältnismäßig kleine Interventionen eine große Wirkung haben können und dass Risikofaktoren – seien sie genetisch, sozial oder sonst wie bedingt – keine schicksalhafte Vorhersagekraft haben.
Wie laufen die Kidstime-Treffen ab?
Sie folgen einer regelmäßigen Struktur. Nach einer kurzen Phase des Ankommens bei Softdrinks und kleinen Snacks starten wir mit einem gemeinsamen Spiel. Es folgt ein kurzer Seminarteil, in dem wir aktuelle Fragen beantworten, Erklärmodelle anbieten oder über Versorgungsangebote informieren. Im Hauptteil besprechen die Eltern in einer von uns moderierten Gruppe aktuelle Themen mit Blick auf die Kinder. Die Kinder bekommen unabhängig davon ein kreatives, spielerisches Gruppenangebot. Hieraus entwickelt sich meist ein kurzes Theaterstück, das sich aus den Themen der Kinder entwickelt und das wir im Anschluss mit den Eltern anschauen. Dazwischen gibt es eine gemeinsame Mahlzeit – Pizza für alle! Nach der Pizza berichten die Eltern aus der Elterngruppe, wir schauen den Film aus der Kindergruppe und haben meist noch eine gemeinsame Reflexion in der Gesamtgruppe. Diese Treffen finden einmal monatlich statt.
Bei jedem Kidstime-Treffen gibt es ein gemeinsames Pizza-Essen. Warum?
Hierfür gibt es eine ganze Reihe von Gründen. Es gibt in allen Kulturen Rituale um gemeinsame Mahlzeiten, an die wir hiermit anknüpfen. In dieser Zeit finden oft die wichtigsten Gespräche statt. Die Kinder der einen sprechen oft mit den Eltern einer anderen Familie, hier finden oft zusätzliche Freundschaften und Verabredungen statt. Auch Fragen und Anliegen, die in der Gruppe schwer auszusprechen sind, werden hier an uns herangetragen. Und nicht zuletzt trägt die Pizza zu einer Art „Party-Atmosphäre“ (Originalton einer Familie) bei – und dabei gleichzeitig versorgende Aspekte gegenüber den Familien hat.
Was können Nachbarn oder Freunde tun, um den betroffenen Familien zu helfen?
Das Wichtigste scheint mir, Ansprechbarkeit zu signalisieren. Psychische Erkrankungen bleiben ein schambesetztes, oft sehr persönliches Thema – Grenzen sollten dabei stets respektiert werden. Wichtig sind aber in Krisenzeiten wie im Alltag konkrete und kleine unterstützende Angebote. Von einem Freund weiß ich, dass er es gerade in depressiven Phasen sehr schätzt, z. B. zu gemeinsamen Spaziergängen eingeladen zu werden – auch wenn es schwerfällt und manchmal unmöglich ist, sich dazu dann tatsächlich aufzuraffen.