Gemeinsam etwas schaffen für eine schönere Lebenswelt

Ein Besuch in der Tagesförderung des inklusiven Dorfes Neuerkerode

„Ich bin hier die Hühnerflüsterin“, sagt Melanie Sturm. Die 26-Jährige liebt es, bei den 180 Hühnern zu sein, die laut gackernd über die hohe Wiese des inklusiven Dorfes Neuerkerode laufen. Das Hühnermobil gehört zur Tagesförderung in Neuerkerode. Hier finden die Bewohner*innen eine Beschäftigung, für die die Arbeit in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung (noch) nicht machbar wäre. Ein geregelter Tagesablauf, soziale Teilhabe und eine schönere Lebenswelt sind die Ziele der Angebote.

Melanie Sturm hat keine Berührungsängste bei den Hühnern. Selbstbewusst nimmt sie eins auf den Arm und sagt: „Eigentlich ist mein Name Programm, ich bin immer wie im Sturm unterwegs. Aber wenn ich bei den Hühnern bin, werde ich ganz ruhig. Das gefällt mir.“ Zufrieden sieht Gruppenleiter Johannes Popenheim ihr zu. Er hat in der Arbeit in Neuerkerode seine Erfüllung gefunden. Eigentlich hatte er Sport und Englisch studiert und als pädagogischer Mitarbeiter an einer Grundschule gearbeitet. „Aber hier habe ich alles, was mir Freude macht“, sagt der groß gewachsene Mann mit dem Rauschebart und der Mütze auf dem Kopf. Hühner und Schafe, um die er sich mit seiner Gruppe kümmert, waren vorher schon sein Hobby. Und die Arbeit mit Menschen liege ihm sowieso. „Hier passt einfach alles zusammen“, sagt Popenheim, der sich vor allem „als Meister der Motivation“ betrachtet. Ein Bürger, so werden die Bewohner von Neuerkerode offiziell genannt, sei lange Zeit nicht in der Tagesförderung erschienen. „Dann habe ich erfahren, dass er die Feuerwehr mag und ihn mit ,Kamerad‘ angesprochen – seitdem ist er wieder regelmäßig mit dabei.“ Jeden so zu nehmen und zu erreichen, wie er es braucht – eine Herausforderung, die der Gruppenleiter gerne angenommen hat. Und auch mit den unvorhersehbaren Momenten kommt er gut zurecht. „Manchmal gibt es auch eine Eierschlacht“, weiß Claudia Deichmann, die die insgesamt neun Tagesförderstätten in Neuerkerode leitet. 

Allein am Hühnermobil gibt es 35 Beschäftigungsmöglichkeiten: vom Reinigen des Mobils mit der Druckspritze über das Einsammeln der Eier bis zum Etikettieren der Eierkartons. „Wir haben drei Sorten von Hühnern“, sagt Popenheim „einmal, weil es schön aussieht, und dann, weil es die Diversität hier widerspiegelt“. Melanie lacht. „Die weißen Hühner sind die Oberzicken“, sagt sie und beginnt, die Eier einzusammeln. Das ist ihre Aufgabe. Die Eier werden dann genau gewogen und nach Größe sortiert. Nur die Exemplare, die mehr als 52 Gramm wiegen, sauber sind und in einen Karton passen, gehen in den Verkauf. 350 Stück pro Woche werden allein ins zur Unternehmensgruppe der Evangelischen Stiftung Neuerkerode gehörende Krankenhaus Marienstift in Braunschweig geliefert. Weitere Eier werden im Dorf-Kiosk verkauft. 

Am Kiosk arbeiten Servicekräfte, Fachkräfte und Bürger*innen der Tagesförderung mit Bürger*innen aus den Werkstätten zusammen. Mehr Inklusion geht nicht. „Der Kiosk ist eine Anlaufstelle für jeden“, sagt Claudia Deichmann, „und ein idealer Ort, um Menschen zu einer Beschäftigung anzuregen.“ Manchmal, sagt sie, genüge es schon, wenn jemand zwei Stühle wieder ordentlich hinstellt. „Das klingt so klein, aber für den Einzelnen ist es bedeutsam.“

Im Kiosk gibt es vor allem Neuerkeröder und weitere regionale Produkte. Das Tagesgericht, Kartoffelsalat und Würstchen, besteht aus selbst geernteten Kartoffeln und Fleisch von Schweinen von Neuerkeröder Wiesen. Das Wasser, das hier verkauft wird, stammt aus der Tagesförderung „Einfach Wasser“, in der Wasser erst gefiltert und dann in Flaschen abgefüllt wird. „Es gefällt mir, die Menschen hier glücklich zu machen und Wünsche zu erfüllen“, sagt Julia Brands, die das Kiosk-Projekt leitet. „Wenn jemand mal wieder einen bestimmten Lippenstift oder ein Fahrradschloss haben möchte, besorgen wir das.“ Und ganz nebenbei würden die Bürger*innen hier auch den Umgang mit Geld lernen. Das erfordere manchmal Geduld, doch die bringe jeder mit, der in diesem Kiosk beschäftigt ist. 

Wenige hundert Meter vom Kiosk entfernt liegt die Villa Luise, in der die Bürger gefördert werden, die künstlerisch interessiert sind. Einer von ihnen ist der 65-jährige Peter Ziegler. Er liebt es, CD-Cover von Heavy-Metal-Bands abzumalen. Gerade gestaltet er, wie einige andere Bürger*innen auch, Bilder für das Wolfenbütteler Summertime-Festival. Auftragsarbeiten sind in der Villa Luise keine Seltenheit. 

Birgit Merkel arbeitet derweil an einer Collage. „Wenn ihr etwas gefällt, macht sie richtig viel davon“, sagt Koordinator Sydney Köhler und zeigt einen ganzen Stapel von Merkels Collagen. Die sollen am Ende alle in einem Buch zusammengefasst werden. „Das macht stolz, und das ist gut“, sagt Köhler. Ellen Se-Baradar, die die Malerei-Gruppe anleitet, liebt ihre Arbeit in der Villa: „Es gibt nichts Spannenderes als beim Entstehen eines neuen Kunstwerkes dabei zu sein“, sagt sie, „Jeder entwickelt dabei eigene Wege.“ Überall in der Villa sind auch getöpferte Arbeiten zu sehen. „Beim Töpfern ist für jeden etwas dabei“, sagt Köhler. „Wer Kraft hat, klopft den Ton, der nächste rollt ihn aus, der dritte formt die Kugel, der vierte die Gestalt. Und am Ende freuen sich alle, was sie zusammen geschafft haben.“